Busfahren in Nepal
Montag, 05.03.2018. Es ist früh. Verdammt früh. Zu früh um zu sprechen. Erst recht zu früh um das Haus zu verlassen. Wir stehen am Straßenrand, die Backpacks wie zwei Felsbrocken neben uns. Ich starre in die Dunkelheit und warte darauf, dass ein Bus anhält, um uns einzusammeln und Richtung Chitwan Nationalpark zu transportieren. Ich traue der ganzen Sache noch nicht. Fünf Minuten vorher sollten wir loslaufen. Nicht zum offiziellen Startpunkt, sondern zu einer Nebenstraße des Hotels. Als wir sichergehen wollten, ob das nicht ein bisschen zu optimistisch geplant sei, wurden wir nur breit angegrinst. „We’re Germans“, entschuldigte ich mich daraufhin schulterzuckend.
Unsere kleine Hotelfamilie aus Kathmandu behält natürlich Recht. Die Scheinwerfer des Busses, der auf uns zusteuert, reißen uns aus unserer Lethargie. Als ich schließlich sitze, muss ich mir erstmal eine Tablette gegen Übelkeit einschmeißen. Gehirn und Magen sind sich einig: das ist nicht unsere Uhrzeit. Und sie sind sowas von schlau. Bereits ein paar Minuten später halte ich es für die beste Entscheidung des Tages die kleine weiße Pille zu mir genommen zu haben. Mein Körper schaukelt im Takt der Stoßdämpfer auf und ab. Meine inneren Organe bleiben dabei irgendwo in der Luft hängen. Wir halten an weiteren Seitenstreifen, sammeln uns die Besatzung Stück für Stück zusammen. Oh là là, ein Franzose. Ein goldiger Opa mit traditioneller, bunt gemusterter Kappe auf dem Kopf. Noch ein Opa. Noch eine Kappe. Eine alte Frau. Eine Familie. Drei Touristen aus England oder Amerika. Ich zähle nicht mehr mit und konzentriere mich auf meine Atmung. Bis auf den letzten Platz belegt schiebt sich der Bus durch die staubigen Ausläufer der Stadt. Trubel und Chaos sind längst erwacht und geben ihr Bestes. Auf der Straße werden kleine Feuerchen gemacht, man sitzt auf niedrigen Plastikstühlen zusammen und frühstückt. Die Morgenröte klettert langsam über die Dächer und taucht die Szenerie in ein weiches, gedämpftes Licht.
Opa-mit-Kappe öffnet in der Mitte des Busses ein Fenster, beugt sich näher, holt irgendetwas tief aus dem Innersten seiner Speiseröhre und rotzt es beherzt auf die Straße #yolo. An das ungenierte laute Rülpsen und Ausspucken der mitreisenden Nepali muss ich mich erst gewöhnen. Okay. Werde ich nie. Den Opa finde ich auch nicht mehr süß. Ich versuche die Augen zuzumachen und die Musik ein bisschen lauter zu drehen. Nach beinahe einer Stunde haben wir den Großteil des Stadtverkehrs hinter uns gelassen und steuern bereits den ersten Rastplatz an. Die Tablette wirkt, ich bin entspannt. Ein trügerischer Zustand. Ich habe mir vorher keine Rezensionen zu den Busfahrten durchgelesen. Aber eine Dokumentation über die Fahrer auf Indiens Hochpässen, die habe ich mir mal angesehen. Und mich vorab gefragt, warum auch so einige YouTube-Videos über diverse Strecken in Nepal zu finden sind. Als die Straße vor uns langsam aber stetig an Höhe gewinnt, bekomme ich eine Vorahnung.
Aus dem frühen Tageslicht schälen sich die Umrisse der umliegenden Berge, die wahre Nepali lediglich als Hügel bezeichnen würden. Unser Platz befindet sich auf der rechten Seite, es herrscht Linksverkehr. Gleich neben der Sitzreihe meines Nachbarn geht es senkrecht in die Tiefe. Wenn wir abstürzen gähnt mich wenigstens nicht gleich der Abgrund an. Ich möchte nicht hinsehen, mach es aber doch. Sicher fühl ich mich in meinem Sitz auf der rechten Seite auch nicht wirklich. Direkt an meinem Fenster drängen sich LKWs vorbei, die selbst kurz vor Kurven laut hupend von Autos überholt werden.
Schaukelnd arbeiten wir uns Meter um Meter nach vorn, die Gebirgsfalten zeichnen tiefe Schatten in die gegenüberliegenden Höhen. Gleich dahinter tauchen größere Berge auf, die milchig am Horizont verblassen. Die Ventilatoren surren, die Hitze legt sich langsam auf den Tag. Schlaglöcher und vor uns kriechende Fahrzeuge zwingen den Busfahrer zur Schrittgeschwindigkeit. Für die ich sehr dankbar bin. Ich versuche mir gerade eine Meinung über die matten Brauntöne der Landschaft zu bilden, als ich nach einer langgezogenen Straßenbiegung mit Entsetzen eine winzige Asphaltlinie erkenne, die sich in äußerst kleinen Serpentinen an den Hang schmiegt. Ich sehe nach vorn, fahre mit meinem Blick unsere Spur entlang und komme zu der Erkenntnis, dass es unsere Straße ist, die sich da weit über dem Tal an das Bergmassiv klammert. Herzlichen Glückwunsch, ich durchlebe gerade meine eigene Fernsehdokumentation.
Ich befinde mich in einem Zustand zwischen Unbehagen und der Gewissheit, dass alles, was mit diesem Bus geschieht, sowieso nicht in meiner Macht liegt. Was wiederum eine semiberuhigende Art von Gleichgültigkeit in mir auslöst. In dieser Ignoranz gegenüber der aktuellen Umstände möchte ich es mir gerade so richtig gemütlich machen, als eine Vollbremsung meinen Oberkörper Richtung Vordersitz katapultiert und ich mich reflexartig mit einer Hand abfange. Der Anschnallgurt übernimmt das nicht für mich. Den gibt es nämlich nicht.
Ich gehe kurz durch, was gerade passiert ist. Eine Vollbremsung. Dann muss es notwendig gewesen sein, ansonsten wird ja selbstbewusst jede noch so enge Kurve genommen. Ich weiß gerade nicht, ob ich mich darüber freuen soll – aber die Bremsen funktionieren anscheinend schonmal. Mein Herz hat zwischenzeitlich einen Schlag ausgesetzt und klopft jetzt in doppelter Geschwindigkeit weiter. Ich drehe den Kopf zu Jule, sehe den erschrockenen Ausdruck, den ich auch in meinem Gesicht vermute und lasse mich ganz langsam wieder zurücksinken. Irgendein Gegenverkehr-Affe hatte sich auf unsere Seite verirrt. Nur wurde es diesmal etwas knapper. Ich atme lange aus. Switche zu Till I Collapse von Eminem und murmle innerlich Om mani padme hum. Zu irgendwas muss das Mantra ja gut sein.
Angesichts dieser vollkommen surrealen Situation muss ich beinahe grinsen. Mein Vertrauen in das Leben ist scheinbar groß. Sonst würde ich nicht in diesem Bus sitzen. Die Tatsache, dass ich jetzt schon weiß, dass wir das Ganze noch dreimal vor uns haben, beruhigt mich trotzdem nicht wirklich.
Einen knappen Kilometer später halten wir schon an der nächsten Raststätte. Bei dem Tempo kann ich meinen nächsten Geburtstag in dieser Schüssel feiern. Vielleicht rülpst mir ja jemand ein Ständchen. Der Ausblick ins Tal ist im Gegensatz dazu atemberaubend. Die Landschaft fächert sich unter uns auf, die Hügel schimmern blaugrau im Tageslicht und werden von den Bäumen eingerahmt, die zu unserer Linken und Rechten auf dieser Seite des Gebirgszugs in den Himmel wachsen. Die einfachen kleinen Kioske auf dem Schotterplatz werden von Stühlen und Tischchen gesäumt, ein Wellblechdach spendet Schatten. In bunten Tüten werden an kleinen Ständen allerlei Kartoffelsnacks verkauft. Warmes Essen scheint es auch zu geben – wie ich feststellen muss, als meine Mitfahrer mit Pappschachteln in den Bus zurückkehren. Der Geruch von Gebratenem kriecht in jede Ritze und das Geschmatze treibt mich zielstrebig an den Rand meiner Selbstbeherrschung. Der Stundenzeiger auf der Uhr hat noch nichtmal die Elf erreicht.
Als wir unsere Fahrt fortsetzen drehe ich Fast Car auf, bilde mir ein, damit das Motto unseres Buslenkers erkannt zu haben und sage mir, dass sicherlich auch ihm selbst etwas daran liegt, diese Reise zu überleben. Die asphaltierte Straße gehört der Vergangenheit an, wir bewegen uns auf einer Mischung aus festgefahrener Erde und Kieselsteinen vorwärts. Ein graugrüner Fluss schlängelt sich durch das Tal. Das Geländer der Brücke, die wir passieren, ist so niedrig, dass es wahrscheinlich eher zur Beruhigung der Psyche dient, als irgendeiner tatsächlichen Funktion nachzukommen. Begleitet von einem wahren Hupkonzert drängt sich ein entgegenkommender Lastwagen an uns vorbei. Tut tüdel tuut tidiii. Die Melodie werden wir noch mindestens hundert Mal hören. Das bunte, kastige Ungetüm lässt gerade einmal genügend Platz, um den Außenspiegel nicht abzufahren. Wenn ich das hier lebendig überstehe – ohne gebrochen zu haben – verleihe ich mir selbst das silberne Abzeichen im Busfahren. Denn schlimmer geht wahrscheinlich immer.
Irgendwann erreicht mein Geist einen neuen Bewusstseinszustand. Mein Körper befindet sich noch immer irgendwo zwischen Kathmandu und Sauraha auf einem Highway, der seinem Namen alle Ehre macht, aber mein Gehirn hat sich verabschiedet. Ich hopse während den Pausen vor dem Bus auf und ab, lasse die Schultern kreisen, traue mich irgendwann in das Käsesandwich aus dem Lunchpaket zu beißen und nehme in wohl kalkulierten Dosen Wasser zu mir, damit sich meine Blase nicht gerade dann zu Wort meldet, wenn wir uns zwischen dutzenden Fahrzeugen schaukelnd am Abgrund entlangschieben.
Nach schätzungsweise 7 1/2h verpassen wir beinahe unseren Einsatz, als wir in Lichtgeschwindigkeit aus dem Bus springen, unser Backpack auf den Rücken wuchten, den zweiten Rucksack auf die Brust schnallen und in den nächsten Transporter klettern müssen. In dieser Reihenfolge. In weniger als einer Minute. Ich sitze also im nächsten Gefährt, bevor ich wirklich verstanden habe, was eigentlich passiert, wedle mir Luft zu und frage mich, ob wir tatsächlich richtig sind. Von meinem Sitz ist eine Staubwolke aufgestiegen, als ich mich fallen gelassen habe. Der Fahrer hüpft auf seinem im Takt der Schlaglöcher auf und ab. Ich möchte einfach nur noch möglichst bald ankommen. Wir biegen auf einen Schotterweg, um uns herum Wiesen aus mattem Grün, braune Erdkruste, Büsche, Bäume und einfache hölzerne Weidezäune. Wir sehen die ersten Häuschen, Ziegen, freilaufende Hühner. So viel Natur nach so viel Stadt. Ich bete, dass unsere Unterkunft sich als das kleine Paradies herausstellt, das es laut den Bildern zu sein schien.
Die Steine unter den Reifen knirschen, als der in die Jahre gekommene Minivan nach einer Weile abbremst und die trockene, staubige Luft aufwirbelt. Chautari Garden Resort, gibt uns der Beifahrer zu verstehen. Ich strecke den Kopf aus der geöffneten Türe. Aha denk ich mir. Herzlich willkommen im Nirgendwo. Geistig nicht ganz anwesend wandern wir um das Auto und versuchen ihm unter Beobachtung der Mitreisenden begreiflich zu machen, welche Backpacks in dem Gepäckstapel der hinteren Reihe zu uns gehören, bevor wir sie letztlich angereicht bekommen. „Viel Spaß“, wünscht uns ein Mann aus der Dreierkombo, die ich allesamt als Engländer oder Amerikaner abgestempelt habe. Fuck. „Danke!“, grinse ich und gehe im Kopf durch, welche unqualifizierten deutschen Bemerkungen Jule und ich während der Fahrt wohl zum Besten gegeben haben.
Naja, die sehen wir eh nie wieder. Wir winken freundlich, der Wagen fährt weiter und wir starren in die Einfahrt, die vor uns liegt. Auf den ersten Blick wirkt die Anlage wie ausgestorben. Wenn man von dem Hund absieht, der im Hof aufgetaucht ist und uns verstohlen mustert.
Ich liebe deinen Schreibstil 🙂
♡!